Renata Alt

Wie Staaten sich gütlich trennen können

Dieser Gastbeitrag erschien am 28.10.2018 auf Causa - dem Debattenportal des Tagesspiegel.

Im Zuge des Zerfalls der Habsburger Monarchie zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde am 28. Oktober 1918 die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Sie wurde als freiheitlich-demokratischer und sozialer Rechtsstaat etabliert, führte 1920 das Frauenwahlrecht ein und blieb bis in die 1930er Jahre mithin die letzte auch praktisch funktionierende Demokratie in Mitteleuropa. Der Staat bestand de facto bis zum Zweiten Weltkrieg 1939 und dann erneut unter sowjetischer Vormacht von 1945 bis 1992.

Im Zuge des Umbruchs von 1989 kam es nicht nur zu einem politischen Systemwechsel vom Sozialismus zur Demokratie. Die seit Staatsgründung bestehende Grundfrage nach dem konfliktreichen Verhältnis zwischen dem reicheren tschechischen und dem ärmlicheren slowakischen Landesteil stand ebenfalls im Mittelpunkt. Es zeichnete sich zunehmend ab, dass der noch 1990 in „Tschechische und Slowakische Föderative Republik“ umbenannte Staat auf Dauer keinen Bestand haben würde.

Anders als jedoch beim Brexit, auf dessen Grundlage die Bevölkerung in einer Volksabstimmung für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stimmte, war die Teilung der Tschechoslowakei bis zuletzt das Ergebnis von Verhandlungen auf höchster politischer Ebene. Als Anwalt spezifisch nationaler Interessen der Slowaken innerhalb der Tschechoslowakei verhandelte Vladimir Meciar zusammen mit Vaclav Klaus, später Ministerpräsident und Staatspräsident Tschechiens, die Teilung und Gründung zweier autonomer Staaten. Umfragen zeigten hingegen klar: Wäre die Bevölkerung in einem Referendum um ihre Meinung gebeten worden, so hätte sie auf beiden Seiten eine Trennung abgelehnt.

Heute sind Tschechien und die Slowakei einander eng verbunden und gehen dennoch eigene Wege. Die Sympathie und Verbundenheit zwischen beiden Nationen ist seit der Trennung nicht kleiner, sondern eher größer geworden. Spürbare Rivalitäten beschränken sich fast ausschließlich auf sportliche Ereignisse. Das hervorragende Verhältnis wird auch regelmäßig in Meinungsumfragen repräsentiert, in denen beide Seiten den jeweiligen Nachbarn als die sympathischste Nation bezeichnen. Nicht zuletzt auf politischer Ebene wird konsequent Nähe und inhaltliche Abstimmung gesucht: Die ersten außenpolitischen Schritte der jeweiligen Staats- und Regierungschefs führen immer zuerst ins Nachbarland.

Aus den ehemals unterstützungsbedürftigen Transformationsländern Tschechien und Slowakei sind heute selbstbewusste Akteure auf der europäischen Bühne geworden. Gemeinsam mit Polen und Ungarn bilden sie die eigenständige Visegrád-Gruppe. Trotz nationalistischer Tendenzen und Skepsis gegenüber einer gemeinsamen Migrations- und Flüchtlingspolitik positionieren sich beide Länder grundsätzlich proeuropäisch und weisen auf die Vorteile der EU-Mitgliedschaft hin. Insbesondere die Slowaken, Profiteure des gemeinsamen Binnenmarktes und des Euro als stabiler Währung, zählen unter den Mitgliedstaaten zu den EU-Enthusiasten.

Die Teilung von Tschechen und Slowaken hat gezeigt, dass das Auseinanderbrechen eines etablierten staatlichen Gefüges nicht in einer Katastrophe münden muss. Mit Blick auf die aktuellen Brexit-Verhandlungen ist dies ein ernstzunehmender Hinweis. Referenden sind und bleiben die Momentaufnahme einer Stimmung in der Bevölkerung, die durch viele Faktoren beeinflusst ist. Umso wichtiger ist eine pragmatisch konstruktive Auseinandersetzung auf politischer Ebene – mit substanziellen und langfristigen Gewinnen für beide Seiten.

In Europa werden nationale Grenzen seit jeher durch politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit überwunden. Tschechen und Slowaken haben bewiesen, dass sie dank politischen Willens und gesellschaftlicher Verbundenheit zu gleichberechtigten und verlässlichen Partnern geworden sind. Diese Prinzipien können auch im schwierigen Umgang mit dem Brexit als festes Leitbild dienen.