Sind die Tschechen und Slowaken zu selbstbewusst?
Dieser Gastbeitrag erschien am 21.8.2018 in Welt.
Im Sommer 1968 strebte die Tschechoslowakei, damals ein sozialistisches Vorzeigeland, nach Reformen. Unter zunehmend wirtschaftlichem Druck unternahmen die Reformkommunisten Alexander Dubček, Vorsitzender der Kommunistischen Partei (KPC), und Ludvík Svoboda, Staatspräsident der ČSSR, den Versuch, Kommunismus und Demokratie zu verbinden.
Ziel sollte sein einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu etablieren. Dazu gehörte die stückweise Liberalisierung der politischen und gesellschaftlichen Lebensbereiche. Die zentralistische Machtkonzentration auf eine kommunistische Elite sollte aufgeweicht, demokratische Strukturen und ein stabiles Rechtssystem aufgebaut werden. Auch die Unabhängigkeit von Presse und Wissenschaft waren wichtige Elemente angestrebter Reformen hin zu einem freiheitlicheren System.
Die Sowjetunion stand diesen Plänen mit großem Misstrauen entgegen, war es doch ein mutiger Schritt der Emanzipation gegenüber Moskau. In der Nacht zum 21. August 1968 marschierten ca. 500.000 Soldaten des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei ein und besetzten die strategisch wichtigsten Positionen des Landes. Die Bevölkerung versuchte die Besetzung mittels Barrikaden in den Straßen und lautstarkem Protest zu verhindern. Doch der Widerstand half nicht: Bei der größten Militäroperation in Europa seit 1945 starben mehrere Hundert Bürger sowie Soldaten der Invasionstruppen. Die vermeintliche Konterrevolution wurde niedergewalzt, bevor die neuen Ideen von Freiheit und Bürgerrechten um sich greifen konnten. Der kommunistische Machtapparat herrschte daraufhin wieder über Politik und Gesellschaft. Es sollte weitere, mehr als 20 Jahre dauern, bis Václav Havel und Alexander Dubček die samtene Revolution proklamierten.
1989 fand die Tschechoslowakei ihren Weg in die Freiheit, 1968 hatte er seinen Anfang genommen. Inzwischen haben sich Tschechien und die Slowakei mit anderen Ländern Mittel- und Osteuropas von unterstützungsbedürftigen Transformationsstaaten zu selbstbewussten Akteuren innerhalb der Europäischen Union entwickelt.
Zu selbstbewusst? Tschechien und die Slowakei pflegen zusammen mit Polen und Ungarn ihren Zusammenschluss zur sogenannten Visegrád-Gruppe. Das Bündnis ist weder politisch noch wirtschaftlich homogen, dennoch eint alle Staaten die Auffassung, mit ihren Ansichten innerhalb der EU zu wenig Berücksichtigung zu erfahren. EU-kritische Stimmen sind in Politik, Medien und Bevölkerung der vier Länder verbreitet. Beklagt wird, nicht zuletzt in der Flüchtlingspolitik, eine herablassende Haltung der Westeuropäer gegenüber ihren mittel-/osteuropäischen Nachbarn. Das Trauma der Bevormundung aus den Zeiten der mächtigen Sowjetunion sitzt tief.
Innenpolitisch ringen die Länder derweil mit sich selbst. Illiberale bis nationalistische Tendenzen sind auf dem Vormarsch. Journalisten und Nichtregierungsorganisationen klagen über mangelnde Meinungs- und Pressefreiheit. Die Slowakei stürzten der Mord an dem Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten im Februar sowie die folgenden Ermittlungen in eine anhaltende Regierungs- und Vertrauenskrise. Es fanden die größten Protestmärsche seit 1989 statt, bei denen eine „anständige Slowakei“ gefordert wurde.
Mittel- und Osteuropa war und ist eine Schlüsselregion für die Zukunft der europäischen Gemeinschaft. Allerdings ist zu beachten, dass die Länder in der Tradition ihrer nationalen Geschichte, Kultur und geographischen Lage Antworten auf globale Herausforderungen suchen. Es kommt deshalb darauf an historisch gewachsene Unterschiede zu respektieren, Differenzen über das Selbstverständnis der EU auszutragen und trotzdem bei teils schwieriger Kompromissfindung – etwa in der Flüchtlingspolitik – gemeinsame europäische Interessen zu definieren.
Deutschland sollte im Zentrum Europas die Rolle als Mittler zwischen West- und Osteuropa annehmen und bestehenden Fliehkräften entgegenwirken. Zusammenhalt in der EU bedeutet starke Mitgliedstaaten, den Gleichbehandlungsgrundsatz zu wahren und allen Mitgliedstaaten gleichwertig zu begegnen. Es bedeutet aber auch das konsequente Beharren auf die Einhaltung europäischer Normen wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegenüber den Nachbarn. Dies sollte nicht als Einmischung in innere Angelegenheiten oder gar als Bevormundung, sondern im Interesse des europäischen Gedankens verstanden werden.
Die Länder Mittel- und Osteuropas, allen voran Tschechien und die Slowakei, haben sich 1968, 1989 sowie mit ihren Beitritten in die EU zu Freiheit und zu Europa bekannt. Die Erinnerung an diese Ereignisse sollte in den Ländern selbst, als auch in den anderen Mitgliedstaaten der EU als politischer Kompass wirken.